Oder: Ein Loblied auf die gute alte Stechuhr
Was soll das denn? Wird hier jetzt die alte Fabrik- und Bürokultur gepredigt? Keine Angst - nachdem ich mich im Post vom 30.6. als Anhänger der Vertrauensarbeitszeit bekannt habe, werde ich jetzt keine Kehrtwende vollziehen. Um meine Äußerungen von letzter Woche noch einmal zu präzisieren: ich ziehe nach wie vor ein Arbeitszeitsystem vor, das auf Eigenverantwortung setzt anstatt auf Kontrolle und überdies den Aufwand erspart, den Zeiterfassung mit sich bringt. In diesem Sinne ist Vertrauens-Arbeitszeit - wie auch immer gestaltet - für mich nach wie vor eine gute Alternative. Doch diese Argumentation mutet etwas altmodisch an. Während die Traditionalisten (vorzugsweise in Produktionsbereichen) immer noch die minutiöse Zeiterfassung verteidigen (fairerweise muss man darauf hinweisen: meist durch Tarifverträge veranlaßt), sind die digitalen Pioniere längst einige Meilen weiter. Sie propagieren die schöne neue Arbeitswelt ohne Begrenzungen von Arbeitszeit und Arbeitsort. Sie wissen genau, dass sie die Arbeitszeit nicht mehr zu kontrollieren brauchen. Stattdessen kann der Output ständig und an jedem Ort festgestellt werden. Die unbeantworteten mails und die Anrufe auf der Mail-Box erzeugen genug Druck, egal ob im Büro oder am Wochenende. Wenn keine Überstunden mehr protokolliert werden, kann die Leistung mühelos verdichtet werden.Da ich keine Freund düsterer, plakativer Prophezeiungen bin, werde ich nicht das Ende der Arbeitszeit ankündigen. Es wird immer Dienstleistungs- und Produktionsprozesse geben, die geregelte Arbeitzeiten voraussetzen. Wir beobachten allerdings aktuell eine starke Erosion von Arbeitszeitregelungen. Geradezu ein Symbol dafür ist das Home-Office. Was an der Oberfläche nach selbstbestimmter Arbeit aussieht, ist hinter den Kulissen ein oft schwer abzugrenzender und deshalb belastender Mix aus beruflichen und privaten Anforderungen. Gerade hat die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) wieder festegestellt, dass 66 % der Erwerbstätigen gelegentlich am Wochenende arbeiten. Mehr als ein Drittel arbeitet sowohl samstags als auch an Sonn- und Feiertagen mit der Folge, dass die Betroffenen körperlich und emotional stärker erschöpft sind. Aber selbst dort, wo es noch feste Arbeitsorte gibt, verlieren Arbeitzeitregelungen an Bedeutung. Nach einer Umfrage der Gewerkschaft ver.di schöpft nur jeder zweite seine Pausen voll aus, jeder zehnte dagegen nie. Gerade die, die viel Leistungsdruck haben, kommen am seltensten dazu eine Pause zu machen (BAuA).
So wird die gute alte Stechuhr, früher das Symbol für Kontrolle und Disziplin im Betrieb schlechthin, zukünftig vielleicht zum Gegenstand nostalgischer Sehnsucht nach der "alten" Arbeitswelt, in der die Arbeitszeit sauber von der Freizeit getrennt war und es einen Feierabend gab.
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