Ist die schonungslose Wahrheit immer gut?
Ob die Mitarbeiter bei Hypr Agency sich auf den Freitag freuen? In dieser PR-Agentur müssen alle Mitarbeiter jeden Freitag einen Kollegen kritisieren "direkt, sachlich und schonungslos" (zit. nach Human Resources Manager online, 27.9.) Jeder muss jeden Freitag bis 17 Uhr eine Videobotschaft mit seinem Feedback an einen Kollegen seiner Wahl über einen Slack-Kanal abgeben. Das ist eine Pflichtveranstaltung. Man muss jemandem aus dem Team erklären, was in der Woche nicht gut gelaufen ist und was besser werden soll. Der kritisierte Mitarbeiter muss auf die Kritik reagieren. Der Kanal, über den die Kritik läuft, ist für jeden einsehbar. Es herrscht also volle Transparenz. Die Führungskräfte sind davon nicht ausgenommen.Diesem Vorgehen liegt ein Ansatz zugrunde, der auf den amerikanischen Psychotherapeuten Brad Blanton zurückgeht und unter dem Titel "Radical Honesty" auch hierzulande Verbreitung findet.
Die Agentur will damit auch trainieren, dass die Mitarbeiter gegenüber den Kunden besser Kritik üben können, um beispielsweise deren Selbstpräsentation zu verbessern.
Man kann nur hoffen, dass die Blantonsche Methodik dabei nicht allzu wortgetreu umgesetzt wird. Denn der geht es darum schonungslos, ohne Taktgefühl und Stil und ohne Rücksicht auf die Wortwahl jedem Gegenüber seine wahre Meinung zum Ausdruck zu bringen.
Grudsätzlich kann man es positiv bewerten, wenn ein Unternehmen mit seinen Mitarbeitern übt, mit Kritik richtig umzugehen. Insbesondere dass dabei auch die Mitarbeiter die Chefs kritisieren können.
Selbst wenn der Ton in der Agentur zurückhaltender sein dürfte, muss man doch fragen, ob Feedback in dieser Form praktiziert werden muss, derart zwanghaft und häufig. Das erinnert etwas an die sogenannten "Blitzlichter", die Moderatoren gerne am Anfang und am Ende von Seminaren veranstalten. Besonders krampfhaft wird es meist beim Abschlußblitzlicht, wenn Kritik geübt werden soll. Viele flüchten sich dann in Lob zur guten Organisation der Veranstaltung und Kritik wird meist, wenn überhaupt, in weichgespülten Formulierungen geäußert.
Nach meiner Erfahrung lernt man Kritik - sowohl aktiv wie passiv - am besten, wenn man in vertrauensvollen Beziehungen zu Vorgesetzten und Kollegen lebt und nicht durch verordnete, zwanghafte Rituale.
Leider gibt der Artikel keine Auskunft darüber, ob es in der Agentur noch so etwas wie Feedback durch die Führungskräfte gibt und wie das stattfindet. So wichtig es ist, die Sichtweise der Mitarbeiter zur Geltung kommen zu lassen, die Rückmeldungen durch die Chefs, positiv wie kritisch, können dadurch nicht ersetzt werden. Und die vertragen auch nicht immer totale Transparenz. Es muss auch Raum für den Austausch unter vier Augen geben.
Aber die Mitarbeiter bei Hypr scheinen ihren Weg gefunden zu haben, mit dem Instrument umzugehen. "Die Kritik, die geäußert wird, ist meistens recht unspektakulär, weil sie sehr kleinteilig ist." so der Geschäftsführer in dem Interview - also der bekannte "Abschlußblitzlicht-Effekt".
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