Sonntag, 23. Juni 2019

New Work Charta

Wieder eine positiv unverbindliche Sammlung von Forderungen, die die Arbeitswelt nicht verändern werden.

Zur Arbeitswelt der Zukunft gibt es viele Texte, die sind so formuliert, dass sie kaum eine andere Reaktion als Zustimmung zulassen. Je nachdem allerdings welche Dosis man von dieser Literaturgattung schon verinnerlicht hat und in welcher Arbeitssituation man gerade selbst steckt, kann die Stimmung schnell in Polemik oder gar Zynismus umschlagen.
So kann es einem auch bei der Lektüre der New Work Charta gehen, die von der "bildungsorientierten Initiative" humanfy aufgesetzt wurde.

Der Begriff New Work und die dazugehörige "Theorie" gehen zurück auf Frithjof Bergmann, der sie in den siebziger Jahren entwickelt hat. Der stark vereinfachte Grundgedanke: in der durch Automatisierung frei werdenden Zeit sollen sich die Menschen der "neuen Arbeit" widmen und das machen, was sie wirklich wollen.
Da Herr Bergmann unter der Berufsbezeichnung Philosoph geführt wird, hätte er sich vielleicht ergänzend auch zu der Frage Gedanken machen können, wie erkenne ich, was ich wirklich will?
Nun greift die New Work Charta dieses Gedankengut wieder auf und fasst es in fünf Prinzipien zusammen.
Freiheit
Experimentierräume, angstfreie Kultur, starke Vernetzung
Selbstverantwortung
Selbstorganisation, Budget-Autorität, Beteiligungsmodelle
Sinn
Unternehmensidentität, Klare Wertschöpfung, Sinnhaftes Gestalten
Entwicklung
Kollektive Lernstrukturen, Selbsterneuerung, Kollektive Entscheidungen
Soziale Verantwortung
Nachhaltiges Wirtschaften, Regionales Engagement, Ehrbarer Kaufmann
Von diesen Schlagworten, mag das Eine oder Andere vielleicht in den Siebzigern noch "new" gewesen sein. Mittlerweile müsste aber deutlich geworden sein, dass es viele dieser Schlagwörter kaum aus den Hochglanzbroschüren der Berater in die harte kapitalistische Wirklichkeit geschafft haben. Einige andere Schlagworte aus der heutigen Arbeitswelt - Entgrenzung von Arbeits- und Privatsphäre, freie, unregulierte und prekäre Arbeitsverhältnisse, Leistungsverdichtung - machen deutlich, dass die Versöhnung "der theoretischen Sozialutopie eines Philosophen mit den wirtschaftlichen Interessen von Unternehmen", wie es eine Unterzeichnerin der Charta schreibt, selbst Utopie ist. In der bisherigen Entwicklung der Industriegeschichte mussten sich Prinzipien, wie sie die Charta fordert, immer der Profitmaximierung als Grundprinzip des "kapitalistischen Wirtschaftens" unterordnen.
Wenn Bergmann sich heute ärgert, dass seine Ideen verwässert oder für andere - eben "kapitalistische" Ziele - zweckentfremdet werden, mag man ihm zurufen "Selbst schuld!" Wer seine Ideen so allgemein formuliert und nicht darlegen kann, wie sie in der Praxis auf Dauer funktionieren sollen, muss sich nicht wundern, wenn sie für alles Mögliche herhalten müssen.
Aber er kann sich mit einem anderen großen Denker trösten. Der hat allerdings seinem Gesellschaftsmodell wenigstens eine fundierte philosophische und ökonomische Analyse und Begründung mitgegeben. Trotzdem ist aus seiner Utopie bis heute nichts geworden. Die New Work-Jünger könnten einmal unter dem Stichwort "Marx, Karl" nachschlagen und versuchen sich in Demut mit dessen Gedanken auseinanderzusetzen.


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