Neulich wünschte ich einer jüngeren Führungskraft eine ausgewogene Work-Life-Balance. Daraufhin winkte diese nur gelangweilt lächelnd ab. "Hören Sie auf damit. Ich kann das nicht mehr hören. Das Streben nach Work-Life-Balance wird auch schon zum Stress." Erst stutzte ich, doch als ich einige Zeit später in einem Magazin wieder einen Artikel las mit Tips wie man zu einem ausgewogenen Verhältnis zwischen Arbeit und Freizeit kommt, verstand ich den jungen Mann besser. Work-Life-Balance ist in aller Munde. Neben den Klagen über die zunehmende Arbeitsbelastung gibt es tausendfachen Rat, wie man dieser begegnen kann. Die Bewegung der Selbstoptimierer suggeriert, dass man sein Wohlbefinden kontinuierlich optimieren kann, wenn man alle Regungen seines Körpers digital quantifiziert und überwacht.
Da können sich der junge eigenheimrenovierende Familienvater auf dem aufsteigenden Karriereast und seine teilzeitbeschäftigte Gattin nur mies fühlen, wenn sie abends mal wieder müde und mit dem Gefühl ins Bett fallen, dass es an dem Tag mit der Work-Life-Balance mal wieder gar nicht geklappt hat. Bei Krankheiten ist es ja bekannt, dass ihre mediale Bekanntheit auch die tatsächliche Verbreitung fördert. So könnte man auch vermuten, dass die öffentliche Diskussion über W-L-B das individuelle Empfinden des Defizits daran verstärkt. Das soll jetzt allerdings nicht in den Rat münden: Redet nicht so viel über W-L-B, dann geht es Euch auch besser.
Einige, von manchen vielleicht als ketzerisch oder altväterlich empfundene, Anmerkungen zu der auch von Wissenschaftlern beschriebenen Lebens-Rush-Hour kommen mir doch. Der oben erwähnte junge Mann war gerade vor einiger Zeit nach seinem zweimonatigen Erziehungsurlaub, den die Familie zu einem ausgedehnten Trip durch Südeuropa genutzt hat, wieder problemlos in eine Führungsaufgabe, die sein Arbeitgeber ihm offen gehalten hatte, eingestiegen. Auch die Ehefrau hat nach zweijährigem Erziehungsurlaub wieder eine Teilzeitarbeit bei ihrem früheren Arbeitgeber aufgenommen während die Kleinen in der Kita des Unternehmens gut versorgt werden. Im Stillen vergleiche ich dann mit meiner eigenen Situation in dieser Phase: Kein Erziehungsurlaub für Männer, für Frauen maximal sechs Monate, die Kinderbetreuung mussten wir auch selbst organsieren, ebenso wie die Renovierung des Hauses. Und ganz ohne Stress war unser Berufsalltag damals auch nicht. Insofern tut unsere junge Führungskraft gut daran mit den Anforderungen an die eigene W-L-B etwas gelassener umzugehen. Es gibt manchmal Situationen, da muss man auch einfach durch. Das sollte aber trotzdem nicht davon abhalten, über die Entschleunigung der Lebens-Rush-Hour nachzudenken, insbesondere angesichts steigender Lebenserwartung und längerer Lebensarbeitszeit. Warum wollen junge Leute unbedingt so schnell wie möglich Karriere machen und Firmen möglichst junge Führungskräfte? Warum gibt es noch so wenig wirklich taugliche Lebensarbeitszeitsmodelle in den Unternehmen? In welchem Mass muss die Arbeitsbelastung tatsächlich steigen - Stichwort Erreichbarkeit?
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