Dass der Deutsche Gewerkschaftsbund in diesem Jahr - genau am 13. Oktober - seinen fünfundsechzigsten Geburtstag feierte, veranlaßte manche Medien zu der Frage, ob diese Organisation nicht auch selbst fällig für die Rente wäre. Brauchen wir heute noch Gewerkschaften? In der Zeit der Individualisierung, in der die selbstbewußten Vertreter der Generation Y ihre Interessen selbst vertreten und die von den Unternehmen angeblich händeringend gesuchten Fachkräfte den Arbeitgebern die Bedingungen diktieren können? In der Tat sind den Gewerkschaften in den letzten Jahren scharenweise die Mitglieder abhanden gekommen - genau wie anderen politischen Organisationen oder auch den Kirchen.
Ich möchte die Frage mit einem klaren Ja beantworten. Gerade in einer Zeit, in der es offenbar notwendig ist, einen gesetzlichen Mindestlohn einzuführen, brauchen wir Organisationen der Arbeitnehmervertretung genauso wie in den Jahrzehnten vorher. Nur müssen diese möglicherweise ihre Mission überdenken. Dazu gehört in jedem Fall eine kritische Bestandsaufnahme des Instruments Tarifvertrag. Taifverträge, insbesondere in Form des branchenbezogenen Flächentarifvertrages haben sich in der Bundesrepublik bewährt und mit zur wirtschaftlichen Stabilität beigetragen. Dieses Instrument muss erhalten werden. Aber was muss ein Tarifvertrag alles regeln? Muss er wirklich so detailliert sein, wie das heute oft noch der Fall ist? Müssen Pausen, Schichtzeiten oder freie Tage für familiäre Anlässe heute noch in dieser Form vorgegeben werden oder reichen hier nicht Rahmenvorgaben, die dann vor Ort in den Betrieben mit Inhalt gefüllt werden können - entweder kollektiv durch die Betriebsräte oder auch individuell durch die Beschäftigten selbst. Hier haben die Gewerkschaften ein Instrument in der Hand, um der Individualisierung Rechnung zu tragen ohne ihre Interessenvertretung aufzugeben. Stattdessen spielen sie noch allzu oft die Rolle des Pfadfinders, der abends in jedem Fall noch eine alte Frau über die Straße "schleppt", um mindestens eine gute Tat vollbracht zu haben. Die Kernfrage ist, wo können Arbeitnehmer ihre Interessen selbst vertreten und wo brauchen sie einen kollektiven Rahmen der ihre Arbeitsbedingungen sichert. In jedem Fall braucht es den, um Mindestbedingungen sicher zu stellen. Darum halte ich eine gesetzliche Verpflichtung zur Vereinbarung von Tarifverträgen für sinnvoller als einen Mindestlohn. Hier sind die Gewerkschaften allerdings auf den Gesetzgeber angewiesen. Wenn Tarifverträge wieder attraktiver werden, flüchten auch die Arbeitgeber nicht mehr aus der Tarifbindung. Dazu gehört auch eine Entschlackung und Vereinfachung des Rituals der Tarifverhandlung.
Wenig sinnvoll ist es beispeilsweise eine Anti-Stress-Verordnung zu fordern. Das kann nur zu einem schwerfälligen, bürokratischen Instrument führen, das in der betrieblichen Praxis eher hinderlich ist und seinen Sinn deswegen nur unzureichend erfüllen dürfte. Die Vermeidung oder zumindest Reduzierung von Stress ist und bleibt eine ureigene Führungsaufgabe.
Die Gewerkschaften tun sich auch sehr schwer ihre Rolle in einer globalisierten Wirtschaft zu finden. Die Organisationen sind nach wie vor national ausgerichtet. National bewährte Gremien beispielsweise auf die europäische Ebene auszudehnen schafft nur schwerfällige Strukturen und erhöht die Komplexität und für die betroffenen Firmen auch die Kosten.
Da die Mär von der sogannnten freien Marktwirtschaft noch nie gestimmt hat, muss es nach wie vor eine wirksame Arbeitnehmervertretung geben. Aber auch die braucht Innovation, auch wenn das in ideologiegeprägten Organisationen schwer fällt.
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