Freitag, 21. Dezember 2018

Das Märchen vom Verschwinden der Hierarchie

Auch agile Methoden sind nur (schöner) Schein

Meistens fangen Märchen mit "Es war einmal..." an. Heute beginnen sie mit "Es wird einmal sein..."
und werden als Narrativ bezeichnet. Märchen lassen uns von einer heilen Welt träumen in der das Gute über das Böse siegt. So auch in dem Märchen vom Ende der Hierarchie. Die Rolle des Bösen übernimmt hier die Hierarchie und die gute Fee bringt so schöne Dinge mit wie beispielsweise agile Methoden, die ihr Ende herbeiführen sollen.
Nur war früher allen klar, wenn es sich bei einer Geschichte um ein Märchen handelte. Heute im postfaktischen Zeitalter werden gerade Geschichten über die Zukunft der Arbeit mit großer Ernsthaftigkeit erzählt und wenn sie noch mit dem Etikett "Megatrend" versehen werden, von vielen auch geglaubt.
Um so genauer sollte man deshalb hinhören, wenn es in diesem Geplapper einmal eine Stimme gibt, die sich mit (wissenschaftlicher) Ernsthaftigkeit bemüht, ein derartiges Phänomen differenziert zu diskutieren.

In dem Buch Design Thinking setzt sich der Autor (Tim Seitz, transcript Verlag) mit dieser sogenannten agilen Methode auseinander. Dazu hat er unter anderem über eine längere Zeitstrecke an DesignThinking Workshops teilgenommen. Da das Buch auf einer soziologischen Masterarbeit beruht, muss man sich durch ein gerüttelt Maß an Theorie arbeiten, um dann aber auf eine interessante Aussage zu kommen. In Design Thinking Prozessen, die sich in intensiven Workshops abspielen, sind die Teilnehmer zwar von formellen Hierarchien befreit, "unterstehen aber einer intensivierten gegenseitigen Beobachtung und Selbstkontrolle." Zudem sind sie in eine zeitliche Struktur und in Handlungsvorgaben eingebunden, die "ihr Verhalten teilweise rigider steuern, als es im Taylorismus der Fall war." Der Autor sieht darin einen "neuen Geist des Kapitalismus" zum Ausdruck kommen.
Bei genauerem Hinsehen kann man dieses Phänomen an vielen Entwicklungen auf dem Weg in die Welt der neuen Arbeit beobachten. Zum Beispiel an der zunehmenden Entgrenzung von Arbeits- und Privatsphäre. Allein die möglich gewordene ständige Erreichbarkeit, sowohl als Sender wie als Empfänger, erzeugt auf subtile Weise einen Druck, wie ihn eine Hierarchie kaum wirkungsvoller vermitteln kann. Selbst wenn es in Unternehmen mittlerweile formale Regeln gibt, die die Erreichbarkeit begrenzen, wird es informell genügend Möglichkeiten geben, diese Regeln zu unterlaufen. Und von bestimmten Beschäftigtengruppen wird das (informell) auch erwartet. Die oben erwähnten Mechanismen der gegenseitigen Beobachtung und Selbstkontrolle wirken auch hier.
Wirkungsvoll ergänzt werden sie durch Leistungsverdichtung in Folge von knapper Personalbemessung. Der individuelle Beschäftigte hat zwar die Freiheit zu bestimmen wann und wo er arbeiten will, aber sein Pensum muss er bewältigen und er weiß, dass die technischen Rahmenbedingungen ihm keine Fluchtmöglichkeiten bieten, höchstens begrenzte "Auszeiten".
So scheint Hierarchie tatsächlich entbehrlich zu werden, da die Kontrolle "in die Individuen selbst" verlagert wird.
Wir werden aber sehen, dass es in Organisationen ab einer gewissen Größenordnung formale Hierarchien geben wird, wie auch immer ausgeprägt oder betitelt. Das habe ich hier schon mehrfach beschrieben.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen